Lebensweltorientierung als Prinzip unserer Arbeit

  1. »Lebensweltorientierung« ist eines der Prinzipien der Jugend(verbands)arbeit. Es bedeutet, die Interessen und Fragestellungen der Jugendlichen in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen.

Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Kennen Sie das? Man ist auf einer Party, in einer Runde wird über ein Thema gesprochen, das einen nicht besonders interessiert. Man spürt wie müde man ist und überlegt zu gehen. Dann wendet sich das Gespräch zu einem Thema hin, das einen selbst beschäftigt und worüber man gerne spricht. Plötzlich ist alle Müdigkeit weg und man hat es nicht eilig nach Hause zu kommen…

Hier wird deutlich, was »Lebensweltorientierung« bedeutet: Man ist mit Herz und Kopf bei der Sache, wenn es um ein Thema geht, das einen beschäftigt und interessiert. Das ist für alle Menschen wichtig. In der Arbeit mit Jugendlichen ist es ein elementarer Aspekt.

Die Phase des Erwachsenenwerdens ist mit vielen Fragen und Unsicherheiten verknüpft: Was will ich in meinem Leben? Wo will ich hin? Was für eine Art von Partnerschaft möchte ich leben? Was sind meine Werte? Man macht sich selbständig auf den Weg, Antworten dafür zu finden. Man braucht Menschen, mit denen man sich über die Fragen auseinandersetzen kann. Die Eltern sind jetzt nicht mehr die richtigen Ansprechpartner, denn man will ja einen eigenen Weg finden und nicht den der Eltern nachlaufen. Also sucht man nach anderen Menschen, mit denen man sich reiben und die man als Vorbilder nehmen kann. Jugendverbandsarbeit sollte danach streben, solche Ansprechpartner*innen zu bieten.

Wie gehe ich vor, wenn die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen den Ausgangspunkt meiner Arbeit bildet?

  • Ich interessiere mich für ihre Themen. Wenn sie sich mir nicht direkt präsentieren, versuche ich sie herauszufinden.
  • Ich versuche, die Themen in meiner Arbeit mit aufzunehmen.
  • Ich kümmere mich um eine Themenvielfalt, um die unterschiedlichen Interessen, die es in der Gruppe gibt, abzudecken.

Durch diese Vorgehensweise spürt der*die Jugendliche, dass er*sie mit den verschiedenen Facetten der Persönlichkeit angenommen wird und nicht nur ein Teil von ihm*ihr willkommen ist. Es bedeutet auch, die Geschehnisse als Jugendliche*r mitbestimmen zu können (hier sind wir bei Partizipation, einem anderen Grundprinzip von Jugendverbandsarbeit). Diese Vorgehensweise bedeutet aber nicht, die eigenen Werte – bzw. die des Verbandes – zu vergessen oder zu verraten. Im Gegenteil – durch die Auseinandersetzung mit den Werten der anderen Person vor dem Hintergrund der Werte des Verbandes bzw. meiner eigenen Werte schaffe ich den Dialog, an dem sich ein junger Mensch reiben und seine*ihre eigene Position reifen lassen kann.

Hier ein paar Beispiele, was Lebensweltorientierung in der praktischen Arbeit bedeutet:

  • Als Verband sieht man seine Aufgabe hauptsächlich darin, sich mit ökologischen Themen zu beschäftigen. Die Jugendlichen haben aber das Interesse, sich Gedanken über mögliche Berufswege zu machen. Das sollte aufgegriffen werden!
  • Man hat sich ein tolles Programm für das Gruppentreffen überlegt. Die Jugendlichen kommen; ein paar sind ziemlich verstört, weil gerade in ihrer Clique einige Leute gemobbt werden. Statt mein geplantes Programm umzusetzen, bearbeite ich das Thema »Mobbing« mit den Jugendlichen.
  • Jungs wollen einen Film schauen, der sexistisch ist. Dies widerspricht dem Leitbild des Verbandes. Anstatt den Wunsch mit einem Spruch abzutun wie »nee, ist nicht, der Film ist daneben, den schauen wir nicht«, greife ich das Thema auf: Ich erläutere ihnen, dass der Film gegen die Prinzipien des Verbandes verstößt und warum ich ihn selbst nicht gut finde. Ich frage die Jugendlichen, warum ihnen der Film gefällt und ob es sie nicht nervt, wie darin Frauen dargestellt werden. Ich verurteile die Sichtweise der Jugendlichen nicht, stelle aber meine Position dagegen und diskutiere auf Augenhöhe mit ihnen.

Auch in der offenen Kinder- und Jugendarbeit ist die Lebensweltorientierung ein wichtiges Prinzip für eine erfolgreiche Arbeit, die Umsetzung ist jedoch etwas schwieriger als in der Jugendverbandsarbeit. In Jugendverbänden kommen junge Menschen zusammen, die bestimmte Inhalte (z. B. politische Fragestellungen, ein ökologischer Schwerpunkt oder eine Orientierung an religiösen Werten) oder gleiche Interessen (z. B. Sport oder Musik) verbinden. In die offene Kinder- und Jugendarbeit kommen junge Menschen mit diversen Interessen oder Themen (1).

Lebensweltorientierung bzw. die Unsicherheit Jugendlicher darüber, welche Werte sie annehmen und welche Schwerpunkte sie in ihrem Leben setzen wollen, kann auch missbraucht werden: neonazistische oder salafistische Organisationen haben dadurch Erfolg, dass sie die Jugendlichen da »abholen, wo sie stehen«. Viele Jugendliche, die in ein radikales Milieu abgedriftet sind, nennen genau diesen Aspekt, der sie zu den Organisationen hingeführt hat: Jemand nimmt sie ernst mit den Sorgen, die sie haben und ist Ansprechpartner*in in allen Lebenslagen.

Beim Aufgreifen der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen als Ansatzpunkt unserer Arbeit innerhalb unserer Jugendverbände ist es wichtig, dass wir uns als Pädagog*in oder als Gruppenleiter*in immer wieder selbstkritisch reflektieren: Wir müssen Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, eine demokratische Haltung zu entwickeln. Wir sollten aber nicht versuchen, ihnen unsere eigene Haltung aufzuzwingen.

Fußnote

(1) Wie Pädagog*innen – sowohl in der offenen Kinder- und Jugendarbeit, als auch in der Jugendverbandsarbeit – einen Zugang zu den (verborgenen) Themen der Jugendlichen finden und wie sie damit arbeiten können, wird von Prof. Benedikt Sturzenhecker und dem Autor*innenteam Müller/ Schmidt/ Schulz dargestellt (Sturzenhecker, Benedikt und Schwerthelm, Moritz: Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern, Band 2, Methodische Anregungen und Praxisbeispiele für die offene Kinder- und Jugendarbeit; Gütersloh 2015) und Müller, Burkhard/ Schmidt, Susanne/ Schulz, Marc: Wahrnehmen können. Jugendarbeit und informelle Bildung; Münster 2008.